Mittwoch, 27. Juni 2012


In der Fassade schmale Streifen von Fenstern. Einer weit unter der üblichen Kopfhöhe liegend, einer weit darüber. Aus der Hocke sehe ich, eine Haarnadel-länge entfernt, durch die Unteren. OJ guckt – natürlich – unangestrengt durch die Oberen. Ich kneife ein Auge zu und bewege die Nadel mit den Lippen über das Glas. Ziemlich schwimmend das Bild, wegen des Wasser dahinter und dem Alkohol in meinem Blut. An der Liefereinfahrt, sehr wenig später, zeigt OJ auf die helle, plane Mauer, die längs der Einfahrt in die Garage läuft. Zusammen mit der Fassade die Ecke bildet, vor der wir kurz stehen bleiben. Die Sonne malt jetzt, mit Schatten, eine wenig verzerrte Kopie des Rollgitters auf den weißen Putz der Einfahrt. Wer würde meinen, dass dahinter ein Hallenbad wäre? Mit halbnackten Badegästen. Knallblauen Fliesen, alles eckig und nass. Denen da drin nur das Badetuch vertraut ist, der eigene Leib vielleicht, mit ein bisschen Gänsehaut. Und wir machen kein Bild von der Ecke, weil wir uns irren, man käme später wieder hier vorbei. Bevor wir die unfassbar vielen Kaninchen auf dem falschen Hinterhof verscheuchen. Bevor wir im richtigen ankommen, und keinen Eintritt zahlen, weil OJ mit irgendwem verwechselt wird. Ich hatte seinen Anruf nicht mitbekommen, die SMS nicht gesehen. Abends 2 mal, morgens noch 2 mal. Hatte sagenhaft tief geschlafen. »Wenn dieses Wochenende nichts los ist,« sagte ich die Nacht zuvor, rücklings auf der Strasse liegend um Sandi Gesellschaft zu leisten »bring ich mich das übernächste um. Ernsthaft.« Wir konnten vor Lachen kaum noch stehen. Es war absolut gar nichts los, viel zu kühl für Ende Juni und über Chancen absolut nichts zu sagen. Sandi ging als erste in die Knie, als wir über die verpassten unter ihnen lachten.

Wir rauchen auf dem Klettergerüst, es ist warm und alle Jungs hier haben denselben Haarschnitt oder tragen Mütze. Ich drücke mich durch die Leute um Bier zu holen, treffe dabei Fabi und Jolle, später Stefan. OJ singt Deephouse-Lyrics mit, Anna kommt 8 Züge später. Ich falle ihr um den Hals, als hätten wir uns seit Jahren nicht gesehen. Von ihr erst erfahren wir von einem Eintritt und der Verwechslung am Eingang. Von Stefan erfahren wir, dies wäre der wichtigste Termin des Jahres – in Düsseldorf. Während die Sonne abläuft, kaufen wir verkohlte Würstchen, malen mit mit Kreide auf dem Boden, mit den Fingern im Staub. Nur Quatsch und verbotene Zeichen. Dabei verwechsele ich OJ ab und an mit Simon, wegen der Größe vor allem, und weil ich den Namen des zuerst Genannten so selten brauche, wo er soweit weg wohnt. Es läuft jetzt Wicked Games in einer Version, in der Chris Isaac noch langsamer singt als im Original. Wir reden über andere Städte in der anderen Stadt. Unterbrechen uns lautlos, wenn wir mit den Lippen stumm den Refrain mitsprechen. Völlig überraschend das OJ da ist, ich freue mich stark. Morgen schon fliegt er samt Großmutter nach Sylt, will ihr auf dem Flug aus Imperium vorlesen. »Okayer Plan.« sag ich, und frage tonlos, wo ich jetzt diese Erlösung finde, von der alle reden. Aber da steh ich schon gar nicht mehr bei den Anderen, sondern tippe dem Barmädchen auf die Schulter. Bevor wir gehen, führen Fabi und ich explizite Gespräche. Extreme-Wicked-Games-Fachgesimpel. Wir zählen alle Körpereingänge durch, dabei fällt mir auf das Fabi’s Arm nicht mehr im Gips liegt. Wir erreichen die S-Bahn, noch bevor es richtig dunkel wird.

OJ widert sich vor der Unterführung am Hauptbahnhof, darum steigen wir eine Station vorher aus. Laufen zunächst zu Fuß Richtung Innenstadt. Auf der Hälfte ungefähr, klaue ich ein Fahrrad, ziemlich leicht, da es nicht abgeschlossen ist. Es passt sogar farblich zur Garderobe. 1 A mit Rücktritt und Gepäckträger, klickernden Speichen. Wir trennen uns kurz, weil ich noch zur Bank muss. Der Fahrtwind ist lauwarm, ich stehe in den Pedalen. Meine Mantelschöße flattern unsichtbar, weil sie schwarz sind und der Park dunkel. Das Rad hat kein Licht, der Park keine Leuchten. Fledermäuse – nur einen Meter  über meinem Kopf. Ich summe Wicked Games und weiß nicht, wen ich im Refrain meinen soll. Es sind überhaupt keine Motten um die Lichter am Foyer der Sparkasse. Nur ein paar müde Spinnen. Ich beobachte den Bildschirm der Anzeige, das Rad draussen am Fenster, mein darüber geworfenes Spiegelbild- ein grünliches und eins in Rosa, leicht versetzt dahinter, wegen der Doppelverglasung. Fahre zurück zu den Anderen, die beim Italiener warten. Wir wählen, ich bestelle, OJ zahlt – meine Karte ist nämlich defekt. Ich bekomme Oktopus, OJ Pasta mit schwarzen Trüffeln, Anna am Ausgang die Zeitung mit meinen Beiträgen, die dort zufällig ausliegt. Ich hab zuvor noch nie Trüffel probiert. Finde sie schmecken nach nichts Besonderem. Der Heimweg – neu: jetzt mit Rad. Gebe den Strassen mit der geringsten Steigung den Vorrang. Es geht nur einmal kurz bergab, da wo Sandi und ich letzte Nacht gelegen haben. Ich muss mich vielleicht doch nicht töten bevor die EM vorbei ist. 

Auf einem Busparkplatz in Kassel. Wir überlegen: das wäre gar keine Kursfahrt, sondern eine Vergewaltigungs-Reise. Wir gingen gar nicht zur Dokumenta. Gleich käme ein Typ, der uns alle nacheinander vergewaltigen würde. In der Reihenfolge der Anmeldungs-Eingänge. Gesponsert von Red Bull. Heute Abend würden wir alle wieder kaputt-gefickt zurück nach Essen fahren. Schön wär's. Wir laufen durch die Stadt ohne Geräusche, ohne Gerüche, ohne reale Passanten. Polizisten auf Segways, neugierige Studenten mit Rucksack, Rentner in Funktionskleidung, Kinder ohne Haltungsschäden und Zahnfehlstellungen auf Rent-a-Bikes. Es regnet die halbe Zeit. Das Beste an der Dokumenta: die Wiesen drumrum. Wir können uns auf diesen kaum noch bewegen, vor Enttäuschung und Gelächter. Essen zu Mittag im Ristorante Pizzeria Boys and Girls. Stefan und Daniel nehmen Carbonara- immer gut. Simon nimmt eine Margherita. Ich Gnocchi, für umgerechnet tausend Euro. Ausserdem noch auf der Speisekarte: Insalata mixta dello Boys and Girls. Ich habe kein Geld dabei und verspreche Simon, zuhause sofort eine Hypothek für die Gnocchi aufzunehmen. Kassel ist eigenschaftslos, bescheuert, teuer - und jetzt rennt eine weinende Frau, mit einem Glas Hasseröder Premium-Pils auf der Hand, einem Phantom-Dieb hinterher. Schon vier Meter weiter geht ihr Geräusch irgendwohin verloren. Kassel könnte überall liegen, sogar in einigen Menschen. Kassel ist eine einzige Fussgängerzone, der siebte Kreis der Hölle, reserviert für Kultur-Touristen. Ein mit Hausfassaden verschaltes Dämm-Wolle-Imperium. In der Innenstadt, neben der Hauptstrasse, hört man ausschliesslich die vom Wind verursachten Geräusche! Wir könnten stürzen, ohne uns die Knie aufzuschlagen. Strassenbahn fahren ohne angeschnorrt zu werden. Planstadt, Normstadt of Nothing. Die testen hier irgendwas. Nach dem Essen versprechen wir uns gegenseitig, nicht mehr zu lachen. Wir brauchen noch Kraft um uns fünf Stunden über die Wiesen zu schleppen. Bevor wir völlig nass den Bus erreichen, schimpft uns eine Künstlerin, mit dem schlechtesten falschen Bart aller Zeiten, englische Liebesbriefe vor. Mit italienischem Akzent und sauberen Fingernägeln. »Was fanden wir am beschissensten?« fragt uns Simon, im Radio läuft Chris Isaac mit Wicked Games. Den Bart, und dass wir stattdessen nicht im Bus vergewaltigt wurden. »Und am besten?« Die Besucherin die ohnmächtig in der Ecke lag, in dem Raum mit der Dia-Projektion von den Gesichtsverstümmelungen. Daniel meint, er freue sich auf den Schmutz daheim.

Dienstag, 19. Juni 2012


»Ja.« antworte ich auf irgendetwas, schiebe die Zeitung zum Kollegen und sie klebt ein wenig auf dem stramm über den Tisch gezogenem Wachstuch. Abwechselnd rot und grau sind die Bierzelt-Garnituren damit beklebt. Curry Murat in Essen-Kettwig. Industriegebiet. Es ist ein Spitzen-Platz hier, das ist mir klar. Ich fühle mich so gut, dass ich tatsächlich nur ein Wasser trinke, während die anderen traditionelle Gerichte und Cola bestellen. Vor uns liegt die aktuelle Bild, und bin froh das ich nicht gegen den grell-weißen Himmel blinzeln muss, weil ich die Sonnenbrille aufhalte. Ich halte die jetzt immer auf. Man kann tausend gute Gründe gegen Leute haben, die ständig ihre Sonnenbrille tragen. Aus meiner Sicht, durch die warmen Gläser es ist mir gleich. Da sie nach unten hell auslaufen, kann ich auch noch prima damit lesen. Ich habe aber absolut keine Ahnung von Fußball. Daher bitte ich die Kollegen um die Übersetzung, des leider nicht mehr vollständigen Sportteils der Bild-Zeitung. Fantastisch. Irgendein Fussball-Manager ist von den Toten auferstanden. Um 17 Uhr schlug er die Augen auf. Bis auf die nass geregneten Tische ist das ganze Lokal besetzt. Es ist total sauber, alles ist mit faltenlosen Fahnen und straff gespannten Wimpel-Girlanden geschmückt. Hauptsächlich deutsche, vorsätzlich noch ein paar mit internationalem Rapport, aus Versehen eine belgische. Der Rasen ist dicht und kurz, die Zäune mit Geranien geschmückt. Mein Kollege wird bei seiner zweiten Bestellung gefragt, ob wir neu im Viertel sind. Der Besitzer ist Türke, Anfang 40 und sportlich. Obwohl ich hier nur 30 min sitze, kann ich ohne Mühe den Rhythmus nachvollziehen, mit dem die Leute hier kommen und gehen. Man ahnt schnell den Umfang an Formeln und Kommentaren die das begleiten. Normaler Umfang, etwas über dem nationalen Imbissstandard. Ich finde das ganze wahrscheinlich witzig, oder possierlich. Das finde ich nicht extrem ätzend von mir. Um die Ecke ist die Druckerei des Springer-Verlages. Eingeschossig natürlich, und grau. Davor steht – sonst ist alles weitläufig, flach und leer – ein kleiner, einzelner Bild-Zeitungsautomat. Auf dem Weg hierhin fuhr das Taxi an Feldern vorbei, mit riesigen Spargel- oder Erdbeermännchen. Die Bildzeitung ist schon was ganz was feines. 

Auf der Toilette öffne ich meine Haare und wische mir an den Augen rum. Dann ich gehe zurück in den Warteraum. Schön hübsch hinter der Dame bleibend, hinter ihr auf dem kurzflorigem Teppich, als sie uns den Kaffee auf einem Wagen in den dunklen Raum schiebt. Ich nehme davon, obwohl er sich mit dem Medikament nicht verträgt und ich davon Herzrasen bekommen werde. Eben im Zug nach Essen, hatte ich die ersten zwei Stationen lang Herzrasen und Metallgeschmack im Mund, weil ich den kompletten Weg zum Zug rennen musste. Das erzähle ich dem Kollegen, der mit mir Beispiel-Druckerzeugnisse durchblättert, um die Zeit zu vertreiben. Ich finde es wahnsinnig gut, dass er nicht auf die Idee kommt das Licht anzuschalten. Ich bin zu früh aufgestanden, nach einer kurzen Nacht mit lächerlich flachem Schlaf. Aus dem Regal suche ich ein Buch über die Geschichte der Enigma, er ein paar Hochglanz-Portfolios eines Modefotografen. Irgendwann im Winter habe ich während einer anderen schlaflosen Nacht schonmal den Wikipedia-Eintrag zur Enigma gelesen. Den Abschnitt mit der Technik bestimmt vier mal, ohne irgendwas zu begreifen. Wir haben ungefähr eine Stunde Wartezeit für die Abnahme der nächsten Bögen, und ich hätte jetzt noch mal die Gelegenheit, dazu eine ganz anschauliche Grafik mit der Walzenmechanik. Aber ich schaue mir lieber auch die UV belackten Bilder an. Von einem Bikini-Girl, vor einem exotischen Großstadt-Panorama; auf einer Veranda, auf einem Plateau, über einer uns unbekannten Stadt. Wir rätseln welche es sein könnte ich tippe auf Südamerika. Draussen ist leichter Regen. Man sieht seine Schraffur nur dank der dunklen Stellen  zwischen den Blättern, in der Wand aus Bäumen, ca. 30 m entfernt. Der Kollege erzählt mir von Acapulco. Er erzählt total gut. Von einem Mietwagen-Desaster. Korrupten Polizisten mit Fire-Guns – er sagt nicht »Bullen« –, traumhaft miesen Hotels. Dem Trip zu den Pyramiden im Süden, mit dem Bungalow-Park im Dschungel. Dem wunderschön schadhaften Mosaikmuster des verwitterten Pools, umgeben von 60 m hohen Bäumen. Darin Horden von kreischenden Affen. »Doch im Pool war auch Wasser.« Ich war noch nicht in Südamerika, nie echt off-continent, – man, klingt das fies – weil Inseln nicht gelten. Auch England nicht. Und muss die ganze Zeit das Wort »Bletchley Park« denken, während ich mich dazu entscheide, von der Postkarte zu erzählen, die wir in Hamburg gefunden haben. Weil es so angenehm dämmerig hier ist, ich gerade doch kein Herzrasen bekomme und ich den Kollegen mag. Die Karte hatte ein unbekannter Handlungsreisender an seinen Direktor geschrieben. Aus Acapulco. Nach Hamburg. Irgendwann Ende der 70er. Das Motiv vorne ist ein Hotel-Komplex, typisch für die Zeit: Hochhaus mit verspiegelten Fenstern. Er beschreibt das feucht-warme Wetter, die Lage des Hotels und sagt: Acapulco sei eine laute und dreckige Stadt. Hier würde man so beschissen wie sonst nirgendwo auf der Welt.

In der Druckerei riecht es nach Steffi-Love. Meine Kollegin weiß nicht wie Steffi-Love-Puppen riechen. Nach Weichmachern riechen sie, billigem Kunststoff, wie eben diese nachgemachten Barbie-Puppen rochen, deren Gesicht am Hals viel zu breit war, die Augen nicht schräg genug standen und viel zu weit auseinander. Meine Kollegin hatte aber keine nachgemachten Barbies. Ich auch nicht das Nachbarsmädchen aus der Parallel-Klasse hatte eine –, aber ich weiß noch wie sie rochen. Nämlich wie dieses Papier hier. Auf einer sauber gepackten Tasche, die unter einem Tageslichttisch steht, liegen in einer glitzernden Reihe: drei in Aluminium geschlagene Brötchen. Die Maschinen rattern gütig, ich stelle mich mit Nachnamen vor. Er passt gut in den nüchternen Raum. Am Druckterminal werden die Farben verglichen. Der Leiter hat feste, trockene Hände, eine randlose Brille, dunkles Polohemd. Er sieht aus wie ein F-Jugend Trainer. Vielleicht finde ich das wegen dem Deutschlandbändchen an seinem Handgelenk. Und weil er so drahtig ist, braungebrannt und lange Unterarme hat. Ich weiß wie es aussähe, wenn er so ein Netz mit unterschiedlich alten Bällen darin halten würde. Weiße Schnurspuren vom Nylon am Unterarm. Und ich denke immer noch an »Bletchley Park«. Vorgestern hat Sandi es mir buchstabiert, eben erst habe ich es selber gelesen. In dem Buch mit den Chiffrier-Maschinen. Während also die Referenz-Bögen ausgelesen werden, laufe ich durch die Halle und öffne eine englische Telefonzelle, die ganz mit Schaumstoff ausgeschlagen ist. Auf einem kleinen Brett liegen ein Stift und ein leerer Notizblock, und ich sacke ein als ich reingehe. Weil auf einmal alles ruhig ist und auch der Boden ganz weich.

Samstag, 16. Juni 2012


Auf dem Weg nach Hause kaufe ich ein paar Kindern, die einen Teppich-Flohmarkt vor der Miet-Parterre-Wohnung ihrer Eltern veranstalten, einen Plastik-Tiger ab. Für 1,50 €, mit stechenden Augen und Hoden. Total realistisch. Der Tiger passt gerade noch in meine Manteltasche. Zuhause spüle ich ihn erstmal gründlich mit Seife ab. Man weiß ja nie. Kinder zum einen – zu günstige Tiger zum anderen. Hausmeisterhaushalt wohlmöglich. Dann ziehe ich mich um, ich werde das Spiel in Düsseldorf gucken. Mit Kathrin mache ich noch ein paar Krokodil und Crystal-Speed-Scherze, aus rein funktionalen Gründen. Wer weiß schon, wie lange das noch gut gehen muss? Die erste Halbzeit wird bereits anfangen, wenn ich gleich in den Zug steige. Die Strassen sind absolut das, was man ausgestorben nennt. The day after tomorrow...–  denke ich während ich mit dem Schirm in ein Fleckchen Moos piekse, das aus der Fuge zweier Strassensteine rausgetrocknet ist und hochsteht, obwohl es doch in den letzten Tagen so häufig geregnet hat – ...is today. Genauso verregnet wie der letzte Frühsommer. Fast dieselben Strassen, darauf dasselbe Personal. Ich habe noch gut 10 min. Zeitunglesen im Kiosk. Das Match ist mir herzlich egal und auch der Bahnhof ist fast leer. Auf der Rolltreppe zum Gleis geht es mir beinahe total gut. Das letzte bisschen, das mir fehlt bekomme ich fast von dem grünen Licht, das aus den Lücken der elektrisch bewegten Stufen blitzt. 

Mit der rechten Schulter fädel ich mich immer wieder neu in den Menschenstrom ein. Dann warte ich wieder auf den Rest der Gruppe, an der Seite stehend. In der Altstadt, nach dem Spiel. Das Paar, das ich hier besuche ist leider anstrengend. Sie sind auf der Suche nach Verständnis und neuen Freunden. Sie haben sich bei mir gründlich verschätzt. Ich kann wieder gar nichts dafür. Wie sie mich in ihren Wünschen beschreiben, bekomme ich ein bisschen Angst und ich lache oft. Ich würde gern durch sie durchgehen, runter in den Keller dieser Bar. Oder später zwischen den Imbiss-Geschäften durch eine Gasse, wieder zu dem Strom der wirklich Fremden. Oder zum Rhein vielleicht. Aber es geht nicht und ich bleibe geduldig, als auch diese Leute mir abwechselnd von der Liebe erzählen. Mir Drogen anbieten, die ich lächelnd abweise. Sex ausschlage, der nicht meiner ist. Ich habe das schon so oft getan, dass ich darin fast charmant bin, mit der Übung. Sie beklagen die Armut ihrer Freunde, die ihnen einen sattes Miteinander verwehrt und täuschen sich, ich hätte genug Geld dazu und genug Rohheit. Einen Leichtsinn sprechen sie mir ab, weil ich auf ihren Rausch verzichte. Mein Rausch geht bei ihnen nicht. Ich erkläre vergeblich: Es ist das Blinken der Kontrolllampen hinter den Rolltoren am Markt. Das Schimmern von öffentlichem Marmor. Zerschlagenes Glas zwischen Schotter. Die dunklen Flecken, die sich irgendwo, immer wieder mal finden. Als ob sich da etwas hineingebrannt hat, ohne selber heiß gewesen zu sein. Jetzt nachts, auf dem Marktplatz, in den tiefsten Stellen der gerafften Fächer in den gesenkten Markisen. Auf der Hinfahrt eben, schattig hinter dem lauten Grün der Bäume und Hecken. Dazwischen noch das viel zu wirkliche Gewitterlicht, das von den Wolken verdeckt wird, um gleichzeitig aus ein paar ausgesuchten Körpern zu reissen. Im Zug stellte ich mir vor– und das mache ich auch jetzt, während das Paar mich für sein Leben wirbt, in dem Geld eine langweilig große Rolle spielt – wie ich an einem Tisch sitze, mit Blick über eine flache Wiese zu einem Waldrand. Das war leicht, denn einen ähnlichen Waldrand sah ich eben noch im Fenster der Bahn. Sitze da in einem dünnen bunten Kleid, mit still klopfender Brust und Sonnenbrille. Mir gegenüber ein kleiner Junge, der mir irgendwann einmal bekannt sein wird, vielleicht. Auf jeden Fall aber zu winzig für sein Age und den Stuhl und den Tisch, und klug genug mich nach schwarzen Wachstiften zu fragen, weil er die Stellen zwischen dem Laub malen möchte.

Mittwoch, 6. Juni 2012



Ich habe sehr schlecht geschlafen. Schon die zweite Nacht. Diesmal gegen drei. Vor dem Weckruf bin ich wieder wach gewesen und gleich aufgeblieben. Ich werde nicht duschen. Obwohl ich mich erinnern kann, geschwitzt zu haben, halte ich mein Unterhemd an. Ich kann keinen Geruch daran ausmachen und nehme mir nur ein frisches Höschen. Darüber das weiße Hemd von Donnerstag, mit den breiten, schwarzen Streifen. Es scheint bis auf leicht knitterige Ärmel einwandfrei zu sein. Ich knöpfe es nicht zu, weil ich noch ins Bad muss. Dazu eine schwarze, enge Hose aus festem Stoff. Heute ist es fünf Monate her. Ich weiß nicht mehr, was ich sie letzte Nacht gefragt habe, aber ich kam mir dabei nicht albern vor. Eigentlich bete ich nicht, und mit Geistern spreche ich wie mit den Kindern fremder Leute. Und auch genauso selten. In der Küche scheint vor mir noch keiner gewesen zu sein. Alles liegt noch da, wie vor ein paar Stunden. Heute ist nicht wie jeder Morgen. Es ist nie so. Es ist immer eine Variante von jeden Morgen. Nach dem Frühstück suche ich alles weitere zusammen und entscheide mich für die schwarzen Halbstiefel, die unfassbar staubig sind. Das sage ich laut zu mir selber. Ich finde nur einen dunkelblauen Stockschirm zum schwarzen Wollmantel und verlasse pünktlich das Haus. Den Mantel muss ich nicht schliessen. Es ist diesig, die Luft  kühl und weich. Der in die Innentasche gehakte Schirm schaut unten raus, wie die Schwungfeder einer struppigen Elster. Ab der Kreuzung folge ich einem Mädchen, das die Augen der entgegen kommenden Männer wie ein Löschblatt auffängt. An der Ampel sehe ich auf die ungeputzten Schuhe, mit dem Staub einer Party von Samstagnacht, hinter einem stillgelegten Bahnhof. Ich finde der Staub sieht ganz gut aus. Die Party war wirklich langweilig. Ab dem Ausgang des Parkhauses trennen sich die Wege von dem Mädchen und mir, ich hab sie nicht von vorne sehen können. Jetzt kommen die besten Meter über den unbefestigten Parkplatz, der schon so voll ist, das ich ihn nicht mittig queren kann. In die kurze, dunkle Strasse mit den schönen Fassaden und der bescheuerten Zusammenstellung von Einrichtungen darin. Dazwischen Abrisslücken, die dabei sind sich zu etablieren. Ich fasse ein Blatt am Blumengeschäft, dann sehe ich auf die messinggerahmten Fenster des Orient-Teppich-Handels. Zwei alte verwirrte Raucher vor der geronto-psychiatrischen Tagesstätte. Auf der Hälfte der Strasse kommt mir die schüchterne Auszubildende entgegen. Ich sage »Hallo!« sie »Guten Morgen«. Kurz vorm Büro, an der Ecke gegenüber, fragt mich ein unheimlicher Typ wo hier der Puff sei. Ich zeige auf ein 5x2 Meter großes Neonschild»Nicht zu danken.« — und wühle in der Tasche nach dem Firmenschlüssel.

Ich esse doch auswärts zu Mittag. Wir sitzen doch beim Arkaden-Jappsen. Vorher haben wir uns ein paarmal im Kreis gedreht. Lux hat sich dabei am Hinterkopf gekratzt und ich Standbein-Spielbein Anordnungen probiert. Ich habe eigentlich keinen Hunger und Lux nimmt etwas, das er eben noch nie wieder essen wollte. Wir sitzen in der sterilen Kantinen-Lounge, an einem dieser hohen Tische auf Barhockern. Das ist alles ausreichend bescheuert. Luxi fühlt sich wie unter Drogen und zerdrückt angenervt seinen Reiskuchen. Ich versuche nicht wirklich, nicht wegen jeder Kleinigkeit zu kichern, als sich ein komplettes Rudel von Kaufmännern um uns setzt. Lux sagt, es sei der absurden Situation angemessen, nur noch schweigend auf den Teller zu sehen. Das behalte er sich als Recht vor. Ich bekomme die lustige Panik, dass der Typ mir gegenüber, nicht echt sein kann, weil sein Gesicht zu breit und zu symmetrisch ist. Dann heisst der auch noch Neumann. Auf dem Rückweg setzen wir uns noch fünf Minuten auf eine Bank und beobachten Typen, die Passanten einen Klecks Handcreme anbieten, oder heiß eingedrehte Locken. Bei dem Typen mit den Handy-Schalen bildet sich tatsächlich eine Schlange aus zwei Kunden. Auf der Rolltreppe frage ich mich, ob ich müde und sie lang genug ist, um darauf einzuschlafen.

Ich werde insgesamt drei Mal gefragt was ich zu Mittag hatte. Zweimal sage ich »Lachs«. Einmal davon, spreche ich das aus, wie jemand den ich kenne. Auf dem Tisch steht Kuchen. Über die von der Konditorei beigelegten Servietten mache ich ein paar ganz gute Witze. Der letzte scheint etwas zu hart. Wieso eigentlich? Es gibt soviel, an dem man sterben kann, worüber soll man denn da noch lachen? Nachmittags schneide ich Karton auf sehr exakten Linien. Ich denke mir eine Filmszene bei der zwei junge Chirugen, Freunde aus dem Studium, während einer OP in Streit geraten. Über geöffneter Bauchhöhle, über etwas ausserhalb des OP-Saals. Sie verstehen sich aber die ganze Zeit nicht richtig, einmal weil sie sehr leise zischen, dann wegen dem Mundschutz. Dann bin ich fertig mit dem schneiden. Mir fällt auf das ich noch keine Musik gehört habe heute.

Während ich mich dusche, weiß ich nicht was und ob ich essen soll. Nach dem abtrocknen und föhnen, schminke ich mich noch. Ist mir nach. Kathrin fragt mich durch die Tür irgendetwas blödes, und ich antworte ihr. Auf dem Weg in mein Zimmer mache ich kein Licht, wegen dem Nachbarn. Ich ziehe mich an, räume ein bisschen auf und schaue oft auf das Telefon. Ich werde mich verspäten, habe aber keine Lust das voranzumelden. Bis auf Unterwäsche und Hemd, trage ich wieder das von vorhin. Auch ein ähnliches Hemd, nur mit sehr schmalen Streifen. Interferenz-artig schmal. Ich ärgere mich stellvertretend für Kathrin, mir so eine dumme Frage gestellt zu haben. Ich packe den Rechner in den Koffer und suche meine Handschuhe und wenn zehnmal Frühling ist. Ich rufe Sandi an und sage: »Du Hure, du hast mein Leben zerstört. Ausserdem gehe ich jetzt los.« und gehe los. Es regnet extrem. An einer Ampel überlege ich worüber die Mediziner in Streit geraten sein könnten. Vielleicht hat sich einer von ihnen in eine unkoschere Sache ziehen lassen. Oder irgendetwas eigentlich lustiges ist aus dem Ruder gelaufen. Sie haben ein krummes Ding laufen und der eine benimmt sich aus Übermut zu riskant. Oder einer hat einen Witz über einen Bäcker und Aids gemacht. Ich höre immer noch keine Musik. Meine Schuhe sind nass und wahrscheinlich wieder sauber.