Freitag, 27. April 2012


Eine krakelige Bemerkung von David Shrigley später, die mich seltsam befriedigt, finde ich mich tief getroffen und entspannt auf einem Eames-Chair, gerahmt von Vitra-Schränken. »Only Love can pull you through the way you have been feeling. But there is no love. There is just interior-design and furniture.« Die Flächen der Schreibtische sind schwarz. Nicht Hoch- eher Seidenglanz. Das Licht streut sich, je nach Art, weich und breit deckend auf der Fläche. Je näher die Quelle, umso schärfer die Grenze. Der Bildschirm reflektiert auch dann noch hellblau, wenn ich ein großes weißes Feld in ihm aufziehe. Nur das Tageslicht schafft weiß. Es wird dreifach gestreut, durch Wolken, Milchglas-Fensterscheiben und die Textur der Tischoberfläche. Nichtscheinende Körper finden sich auf ihr nur als unsauber begrenzte, dunkle Ahnungen. Lebenden ist es unmöglich sich an ihnen aufzuhalten ohne Effekte zu produzieren, welche nicht mit ihnen selbst vom Tisch verschwinden. Sie sind da sehr empfindlich und merken sich bei organischen Wesen vieles. Sobald man mit seiner Haut die Tische berührt, gibt es dunkle Stellen, in einem Schwarz zwischen dem der von Licht berührten Flächen und der Schwärze der Schatten. Am Ende des Tages ist auf dem Tisch eine radiale Anordnung von Flecken, ausgehend der Mitte der Tischkante. Man stellt dann die Tastatur hoch für die Reinigungskräfte.

Heute werden die Plätze neu verteilt. Flache Hierarchie auf einer Etage. Die Mitarbeiter finden sich in wechselnder Zusammensetzung, in wispernden Gruppen über die Pläne gebeugt. Einige sind so aufgebracht, dass sie wütend flüsternd mit Kündigung drohen. Wirklich. Mehrmals finden sie sich auf den Aktenschränken neben mir ein. Ich darf sie ruhig hören. Mir ist es tatsächlich am egalsten wo ich sitze. Einmal weil ich nicht lange bleiben werde. Dann auch weil ich nicht glaube, dass sich eine Stellung dauerhaft durch eine räumliche Positionierung markiert. Vielleicht in extremen Fällen. Aber nicht in diesem Raum, mit den sich sehr gleichenden Plätzen. Offene, großzügige Bereiche in einem etwa 5 Meter hohen Saal, durch 2m hohe Wände unterteilt. Weiß und glatt verputzt. Vor allem, wenn dieser Platz jeden Tag einzunehmen ist und dadurch in seiner Aussage eher neutraler wird, sich mit Raumausnutzung, wenig später schon mehr durch Gewohnheit erklärt denn durch Rang. Der ja hier ohnehin funktionsgebunden ist. Eigentlich. Natürlich kann ich mir denken welche Mechanismen hier greifen. Entscheidender zeigen sie sich in kleinen Situationen. Gestern beispielsweise habe ich in der Küche gesessen, lesend, während einige Kollegen am Fenster rauchten. Vor der Glastür, die wesentlich näher zu mir lag, stand der winselnde Hund des einen. Eigentlich möchte ich jedem Wesen die Türe öffnen. Das lernt einem das Leben schnell aus. In diesem Fall habe ich mich nicht bewegt, um nicht der Hund zu sein, der dem Hund die Türe aufmacht. Der Kollege pfiff schliesslich, nach minutenlangen und lauten Gejaule, das Tier scharf an. Garantiert war daran auch die Lektüre schuld, die ich in dieser Pause beenden konnte. Nicht nur weil sich deren Probe anbot. Die sich in einem anlegenden Lehren, füllen sich im Laufe mit so mancher Zeile, die man nicht sofort und nicht folglos weglöschen kann.

Samstag, 21. April 2012


Für ein paar Sekunden bleibe ich liegen. Die Arme auf Kopfhöhe. Die linke Hand wird sofort sehr warm oder der Stein ist kalt. Beides. Dann dreh ich mich über die Seite auf den Rücken- Regenrinnen, Dachsturz, Strassenlampen -  und stehe auf. Irritierenderweise schaue ich jetzt in die Richtung aus der ich gekommen bin, die Strasse zurück nämlich, davon wird mir kurz flau. Meine Kleidung ist nirgends beschädigt. Zehn Meter entfernt steht ein Junge in einer silbernen Autotür. Ein Golf- er sieht rüber. Die Hand ist am Ballen etwas aufgeraut. Ich gehe, weniger zügig, weiter. Die Luft riecht wie November und ich hab noch zehn Minuten. Erst an der Garderobe klopfe ich hellen Dreck vom Mantel. Die Bügel klirren noch länger nach. Dann fahr ich den Rechner hoch und bekritzel Post-It-Zettel und meinen Unterarm mit einem Kugelschreiber. Auf der Toilette sehe ich, bestimmt eine Stunde später, während ich meine Haare hochstecke, das ich mir den linken Hüftknochen aufgeschürft habe. Davon mach ich ein Foto, auf dem man nichts erkennt. Ich versende es trotzdem.

Die erste Stunde bin ich völlig hingerissen vom Publikum und achte nicht wirklich auf die Bilder. Wirklichlich, es ist schwer. Gestern Abend habe ich die Zusage auf eine Eintrittskarte bekommen. Weil wir direkt dorthinfahren wollen, ziehe ich mich morgens schon entsprechend an. Im Vergleich sehe ich, das ich es nicht falsch gemacht habe. Zum Glück aber auch nicht richtig. Wir fahren sofort auf die oberste Etage, in den Bereich der New-Yorker Galerien. Heimliches High-Five mit mir selbst aus Coincidence-Gründen. Auf keinen Fall will ich es schaffen, bei den anderen zu bleiben. Das scheint eh unmöglich, daher speicher ich die Nummer einer Kollegin, für den Fall das ich den Treffpunkt nicht finde. Hier sind alle reich und/oder ambitioniert auf jedenfall aber contemporary. Nicht wenige der jungen Frauen im Erdgeschoss waren vorher beim Stylisten scheint es, ausserdem gibt es wirklich rheinländische alte Schwuchteln, die tatsächlich enggebundende Seidenschals um den Hals tragen. Die schönsten Frauen hier, fast alle auf der ersten Etage, tragen die Haare sehr kurz. Roter Lippenstift, pinker. Hübsche schmalknochige Jungens. Laute Junkie-Look-Studenten mit Sekt-Aperol- was für zwei Seuchen. Söhne und Töchter. Transvestiten. Hermes, Vuitton. Burkas vor Neonröhren. Morgensterne mit Klavierlack. Ventilatoren vs. Goldpailletten. Überall Sekt-Aperol. Manager gegen Privatiers gegen Sammler. Die Galerie- Mädchen an den Tischen sind sehr wach. Ihre Gesichter und auch ihre Visitenkarten, weiß mit Prägung. Vieles sieht aus wie Plattencover oder Flyer. Unzählige Pornoscreenshots auf Leinwand, Kristallsammlung vor blonden Video-Schönheiten. Man darf anfassen, wenn man kauft. Auch den Richter. Auch den Andy. Tony Cragg-Hure. Zerstörte Strassen. Riesige, vomitierende Tiere aus Plüsch. Mädchenplastik von schwarzem Kirchfries durchbohrt. Von Geburt an sehr Reiche sind sanft. Ab Neun gibt es Freikölsch am Südausgang. Die müssen sich nicht hart machen, heisst es. Ich wähle die Nummer der Kollegin.

Dienstag, 10. April 2012

Mehretagige Party. In der obersten Wohnung finde ich es newyorkig. Dabei scheinen die meisten hier nicht mal so richtig unter Drogen zu stehen. Ich weiß auch nicht wie ich das überhaupt so finden kann. Ich war noch niemals in New York, ich war noch nie so richtig high. Aber natürlich habe ich 80er-Jahre Filme gesehen und etablierten Drogenkonsum beobachtet. Wenn man jetzt »Filme« und »Drogen« im vorangegangen Satz tauscht, stimmt das noch ein bisschen mehr. Jedenfalls gibt es in der Wohnung Lampen mit Reflektoren, schlichte teure Möbel vor einer gigantischen Schallplattensammlung, zwischen denen sehr verschieden gekleidete Menschen stehen. Die newyorkigsten Personen sind eine sehr große Frau mit Lederjacke, breiten Schultern und Accessoires in Primärfarben, sowie der Typ dem die Wohnung gehört. Er sieht wie ein in die Jahre gekommender Beatnik aus. Gut, echten Beatniks sollte das schon passiert sein. Also das Altern. So ein broken Smile über schwarzer Kleidung, halogenbeleuchtet vor rohverputzten Wänden; im Anschnitt eine Treppe aus Stahl mit Gitterstufen...Man darf vermutlich nie echt in New-York gewesen sein um es im Wirklichen wiederfinden zu  können. Dass es sich so ähnlich mit vielem verhält und so weiter, sehe ich im Hausflur- wo sonst auch. Als ich auf den Stufen sitze, die ein speziellerer und persönlicherer Mythos hinabsteigt. Fast ohne mich zu wundern. Vielleicht weil ich als Methode erkenne, was als Neigung sich getarnt hat. Vielleicht auch weil ich den Typen jetzt von hinten sehe und von oben, um zwei Uhr morgens. 

Zu einem Drittel sandfarbene Terrassensteine, garantiert erst kürzlich hochdruckgereinigt. Dann der abgedeckte Pool zu einem Viertel, mit seinen weißen Beckenrändern. Dunkelgrüne Folie, an der Treppe zurückgeschlagen, so dass die weißgraue Schwimmjalousie sichtbar ist, zu deren aufgewickelter Rolle ich früher oft ängstlich und Wasser tretend rübergeschaut habe. Dann ein Streifen Rasen und zu einem letzten Fünftel die dunkelbraune Fläche des Blumenbeetes. Die einzige Vertikale ist die Frau meines Vaters, mit dem Rücken zum Betrachter vor dem Beet stehend, mit kurzem Rock und Motiv-Strumpfhose. Sie raucht Zigarillo und sie tut es alleine. Dabei trotzt sie kippelnd dem weichen Rasen. Sie ist klein, blond und hat diese typischen Waden vom Tragen hoher Schuhe. Ich bin mir sicher sie fühlt sich isoliert und so weiter, vielleicht sogar geschnitten. Früher hat sie versucht diesem Gefühl ein paar Funken Originalität beizumischen. Mit der Geschichte ihrer Herkunft meistens. Daran aber hängt es hier letztlich kaum mehr. Man könnte sowieso jeden in dieser Kulisse fragen, ob er sich allein fühlt. Und genau deshab lässt man es bleiben. Daher erwähne ich auch die Kinderzeichnungen nicht, die hier am Kühlschrank hängen, man würde es mir sowieso nicht glauben. Ich darf mich trotzdem freuen die Cousine und den Cousin von Demut gebändigt vorzufinden. Die Pubertät ist plötzlich und knebelnd über sie hereingebrochen. Sie tragen ihre Zeichen und die üblichen Korrekturmaßnahmen. So lassen sie uns wenigstens in Frieden in der Sofa-Landschaft ruhen. Die haben den Trick noch immer nicht raus, die Neuen. Wir haben es ihnen aber schon ein paar Mal erklärt. Sogar offen vor allen, am Tisch. Wie man hier überlebt nämlich. Wie erstaunt wir uns fanden, das auch unser Vater es wusste. Das musste er doch. Wie dumm von uns. Kaffee und Kuchen. Kaffee und Kuchen. Kaffee und Kuchen. Dann eine aktuelle Begebenheit, erzählt von der Großmutter. Der Tisch teilt sich in unbekannter Menge in jene, die diesen Geschichten etwas Absurdes abgewinnen können und solche, denen es keine Erwähnung wert ist. Es wäre bestimmt schön in Gesellschaft mit welchen, die irgendeine, mir unbekannte, dritte Haltung einzunehmen wüssten. 

In einem der zahlreichen Supermärkte unseres Heimatdorfes kaufen wir Alkohol. Weil wir jetzt nicht mehr ganz so klein sind, kaufen wir besseren Wodka, weil wir noch ein bisschen albern sind Import-Mineralwasser. Zitronen noch. Ich dachte wir hätten das überwunden, teuren Sprudel mit schönem Etikett, ach- sei's drum. Und dann Wodka-Soda trinken in der Küche der Eltern. Wir reden über die Kinder der Super-Reichen, die Daniel für ein Uni-Projekt fotografiert hat. »Schön ist die Jugend« hieß es. Ausserdem noch über Dinge, die uns früher mal peinlich waren. Aber jetzt nicht mehr. Aber ja doch! Ein Glas noch. Und dann zu Martin, Hobbyraum-Party. Und dahin erstmal durch die Nacht, die sich letzter Zeit merkwürdig im Hintergrund hält. Der Partyraum ist voll und verraucht. Sitzbänke aus Holz, geblümt, gepolstert und noch ein paar ausgebaute Autositze. An die Bar setzen wir uns. Martin sitzt dahinter, wo es so eng ist, dass man seinen Unterkörper nicht sehen kann und er wie eine Handpuppe aussieht. Bunte Lichterkette aus nur 4 Lampen. Alte Küchenschränke. Kurt Cobain Poster! Kurt Cobain's Lächeln über der Oma-Sitzbank: besser schnell vergessen. Martin sieht fröhlich aus. Wir üben zusammen eine Geste, in der man still, sich wundert durch den Raum guckt, auf die Art wenn man sich völlig unbeobachtet fühlt, und dann irgendwann kopfschüttelnd und stumm ein Wow mit den Lippen formt. Das proben wir bis zum Ende bestimmt an die 1000 mal. 
Die Hälfte der Leute hier ist mit meinem Bruder in der Klasse gewesen. Der aber ist gar nicht da, weil er die Ex-Freundin nicht sehen will, welche auch nicht gekommen ist. Die andere Hälfte der Leute kennt mich also nicht. Ein Mädchen aus der Eckbank-Ecke, fragt laut wie ich heiße. Zwischen uns der Tisch mit dem Sprit, ich auf einem Barhocker, den rechten Schuh hinter ein Stuhlbein hakend, schulterzuckend. »Irgendwas mit N, oder?« Schulterzucken. »Naomie?« Kopfschütteln und ein stummes Wow. Wie kommt sie auf diesen Namen? Nee, echtmal. Letzte Woche auf dem langen Weg zur Uni, haben wir uns in Vanessa reingesteigert. Weiß nicht wie wir darauf kamen. Wir kennen alle keine Vanessa. Nicht persönlich, allenfalls über Ecken. Auch keine Laura, keine Jenny. Deshalb haben wir über sie nachgedacht. Die Vanessa und die Laura und die Jenny. Und über die, die sich in sie verlieben. Davon kenne ich auch keinen, aber es gibt die, es können nicht wenige sein. Wegen Laura wälzen sie sich brennend im Bett. Wegen Vanessa stehen sie geknickt an Bushaltestellen. Zu Jenny's bester Freundin sind sie übertrieben nett auf Parties. Das ist so, ziemlich sicher, bundesweit. Nicken von der linken Seite, bestätigendes. Aber was macht eine Naomie? Kann sie Ski fahren? Ist ihr Treue wichtig? Weint sie oft, vielleicht nie? Was wissen wir über Naomie's? 
Viel zu wenig. Wir wissen geradezu nichts über sie. 

Montag, 9. April 2012

Es wird eine andere Route vorgeschlagen, die Sonne steht hoch, es ist Mittag. In der Folge treffen wir Lukas, der in einer sonst oft verschmähten Zone Pause macht. Er sieht uns erst als wir zwei Meter vor ihm stehen, also schlecht. Da wir alle ziemlich blind sind, die nächsten paar Strassen zusammen aussuchen und so weiter, kommt es dass Simon die lustige Geschichte erzählt, wie einmal sein Augen-Innendruck gemessen wurde. Dabei bekam er einen Sensor mit Saugnapf auf das Auge gesetzt, die Hand der Sprechstundenhilfe hielt den Kopf. Ganz fest presste das Gummi auf dem Apfel, die Hand im Nacken. Als ein sehr helles Licht durch die Iris die Netzhaut untersuchte, sah er das Innere seines eigenen Auges mit eben jenem. Der grelle Strahl im Geäst der Gefäße, rot-glasiges Dunkel, der pulsierende Druck auf den Nerv (der wohl ungünstig nah neben dem Sinn für das Gleichgewicht liegt), die Unverwehrbarkeit gegenüber dem Bild, dass das Auge von sich selbst sah- er wurde ohnmächtig. Ja wirklich ohnmächtig. Die Untersuchung wurde abgebrochen. Man legte ihn auf den Boden, die Beine hoch an die Wand. Er wachte auf, erholte sich und so. Und dann war da ja noch das linke Auge. 

Das Haus ist sehr schmal in der Front, läuft aber weit nach hinten, die Länge begleitet ein Garten. Erst einmal Kaffee und Palaver. Auch eine Reval ohne Filter. Schon mehr fies als schick, aber so für zwischen die Finger ok. Über dem Sturz der Türe steht in gesperrten Lettern N u r  a u f  d e n  Z u f a l l  i s t  V e r l a ß.  
An der Wand rechts, daran schliessend und mir gegenüber, eine Reihe von Blättern. Direkt im Blickfeld sehr lange die Zeichnung einer Frau, mit schwarzen Augen auf hellem Papier. Dann ihr Nachbild auf dem Boden als weiße Flecken, die Stuhllehnen unscharf weil ich den Blick kaum verrücke, ich bemühe mich jedenfalls darum. Man lebe viel zu kurz um die nötigen Schlüsse ziehen zu können. Doof, oder? Nö, geht. Ob ich die Narbe am Kinn von einem Unfall habe, vielleicht mit einem Fahrrad? Es gab keinen Unfall- nein. Achso. Und die Narbe ist auch nur das Streiflicht. Sie bleibt bis der Winkel sich tiefer zieht und rot wird. Man, sitz ich ruhig. Gleich kommt die blaue Stunde, ne? Genau. Bisschen noch. Wir warten etwas, die Länge begleitet der Garten. Als sie kommt bin ich narbenfrei, sie klar und veilchenblau. Weil ich die Fledermäuse auch sehen will, komm ich näher ans Fenster. Eine sehe ich, und auch den Nachbarn: der ehemalige Honorar-Konsul von Sansibar. Auf dem Weg von der Fledermaus zu dem weißhaarigen Herrn, flimmert das Bild wie von Hitze. Nicht weil ich fieber, oder die Luft, sondern weil die Fensterscheiben sehr alt sind.